Meine Frage an die Klasse: "Wenn ich einen Kameltreiber daran hindere, sein Kamel zu schlagen und zu verfluchen, weil es nicht gehorcht, wie würdet ihr mein Verhalten erklären?" Antwort: "Sie machen das sicherlich aus Bruderliebe, Herr Hoffmann!"

Ich schrieb dieses Märchen im Jahre 1994 für eine der vielen Klassen, die ich während meiner Zeit als Grundschullehrer in Oedt unterrichtet habe. In dieser Geschichte sind manche Eigenheiten, Verhaltensmuster, Vorlieben und „Begabungen“ meiner damaligen Kinder verwoben, so dass sie sich wohl auch heute noch beim Lesen in ihr wiedererkennen werden. Darüber hinaus ging es mir darum, die für mich stets grundlegenden Erziehungsmerkmale anklingen zu lassen, die ich mit den Begriffen „Hilfsbereitschaft“, „Toleranz“, „Mitmenschlichkeit“, „Achtung des Anderen“, „Fähigkeit zum Zuhören“, „Mitgefühl“ und „Einsatzbereitschaft“ verbinde. Heute nennt man das unter anderem „Klug mit seinen Gefühlen umgehen“ („Emotionale Intelligenz“). Es geht um die Wiedervereinigung von Herz und Verstand, oder „Was nützt ein hoher IQ, wenn man ein emotionaler Trottel ist“? Wir benötigen einen hohen „EQ“.

 

Die Sterntaler der Klasse 3b

 

Es  war einmal eine Schulklasse. Sie bestand aus 24 Kindern eines  dritten  Schuljahres,  darunter  13  Mädchen einschließlich eines  Zwillingspärchens  (Elena  und  Franziska).  Der Rest nannte sich  "die  Jungen"  oder  einfach  "Jungs", obwohl sie im Durchschnitt  nicht  jünger  waren  als  die Mädchen. Alle Kinder waren nämlich  jung und frisch, so um die neun Jahre alt.    

 

Die  Klasse  nannte sich "Die Drei Beh"! Nicht zu verwechseln mit  der  "Drei  Ah"!   Die Klasse 3 b hatte auch einen Klassenlehrer,  den  Herrn  Hoffmann,  der aber nichts mit dem Liedermacher Klaus  Wilhelm Hoffmann zu tun hatte. Der "Hoffi", wie einige ihn manchmal  nannten, der Klassenlehrer, besaß keinen zweiten Vornamen und hieß  einfach Klaus. Er wurde im 2. Weltkrieg geboren. Sein Vater war  in  diesem  Krieg. Seine Mutter hatte kein Geld für einen zweiten  Vornamen, scherzte er.  Den hatte er sich später selber zugelegt: „Erwin“!   

 

Eines  Tages  fragte  der  Lehrer die 3 b: "Möchtet ihr mal einen „totalen“  Ausflug machen?" Alle schrieen: "Ja!"  Wisst ihr denn überhaupt, was ein  „totaler“ Ausflug  ist?" "Nee!" "Das sieht euch ähnlich: "Ja"  schreien, aber nicht wissen, warum."   

 

"Bei einem  totalen Ausflug hat jeder von euch mindestens ein Erlebnis,  das  er sein  Leben lang nicht mehr vergessen wird. Bei  diesem  Ausflug  werden  wir natürlich nicht fliegen. Wir sind ja  keine Vögel oder Flugsaurier. Wir werden nur unsere Beine und Füße  benötigen um auszufliegen. Wer von euch will denn ausfliegen?  Eins,  zwei,  drei,  vier,...., hmm, also alle. Ihr wollt wissen,  wohin es geht? Das verrate ich nicht. Hier, habt Geduld, ich verteile diesen Elternbrief. Darin steht alles, was eure Eltern wissen müssen. Lies vor! Julia."

 

"Liebe Eltern! Ihre Kinder machen morgen den totalen Ausflug. Ist  das  nicht  cool?  Wir  gehen um 8.30 Uhr von der Schule aus los.  Bitte  an geeignetes Schuhwerk denken! Ihre Kinder benötigen keinen Tornister, stattdessen jedoch einen Rucksack mit viel Marschverpflegung.  Wir sind zurück, wenn über Oedt und Mülhausen der Regen  einsetzt.  Spannen  Sie also morgen einen Regenschirm auf.  Wenn es zu klopfen beginnt, treffen wir in der Schule ein. Natürlich fährt dann auch der Schulbus. Viele Grüße, Unterschrift."   

 

"Herr  Hoffmann, darf ich morgen mein Knusperhäuschen mitnehmen?"  fragte  Heiko.  "Natürlich,  Heiko, aber lass die Hexe zu Hause!"  "Herr Hoffmann, darf ich morgen meinen Stoffelefanten mitbringen?"  fragte  noch jemand, aber im Lärm ging alles unter. "Kinder, seid  doch  mal  leise!"  mahnte der Klassenlehrer. "Ich muss euch noch  etwas  Wichtiges sagen. Hört zu! Für den Ausflug morgen müsst ihr  total  ausgeschlafen  sein.  Also  geht heute Abend total früh zu  Bett  und schlaft total gut. Ihr werdet eure Kräfte morgen dringend  benötigen, denn wer weiß, wann der Regen über Oedt und Mülhausen  einsetzt?  Macht  euch  auf einen langen Ausflug gefasst.  Packt  euren Rucksack mit Überlegung. Eure Eltern werden euch dabei helfen, aber ihr seid gefragt, denkt an alles!"

Die  Kinder  wurden plötzlich unruhig und besprachen miteinander,  an  was  denn wohl alles zu denken sei für einen Ausflug, der mit  einsetzendem Regen zu Ende wäre. Und was wäre, wenn es wochenlang  nicht regnen würde? Cool! Von wegen! Dann käme kein Schulbus, und  die  Eltern würden ihre Regenschirme aufspannen und auf das Klopfen  der Wassertropfen vergeblich warten, und damit auch auf ihre Kinder - total vergeblich!

Einige Kinder fanden das aufregend,  andere  schauten eher etwas ängstlich drein. Na ja, alle Ausflüge waren bisher gut verlaufen, selbst die hartnäckigsten  Kritiker  hatten  hinterher noch ein nettes Wort, den Ausflug betreffend.  Doch  morgen  sollte der "totale" Ausflug stattfinden.  Man  merkte  die Spannung in den Gesichtern. Würde sich etwas Besonderes, etwas Außergewöhnliches ereignen? So gingen alle Kinder  der  3  b vergnügt und voller Erwartungen nach Hause. Hoffentlich  würde es morgen früh nicht regnen, denn dann wäre der Ausflug bereits  zu  Ende, ehe er begonnen hätte. Dann würde der Schulbus -  an der Schule angekommen - die 3 b gleich wieder nach Hause bringen.  Deshalb  verfolgten  alle Kinder am Abend den Wetterbericht  sehr  genau. Es wurde vorhergesagt, dass das  Wetter  bis  in die  Abendstunden des  kommenden Tages noch trocken bliebe und dass in  der  Nacht gebietsweise Nebel zu  erwarten sei. Diese gute Nachricht führte dazu, dass die meisten Kinder gut einschliefen und  bald in tiefe Träume versanken.  

Julia  träumte von ihrem Hund. Er trug ihren Rucksack während des  gesamten  Ausflugs  auf  seinem Rücken. Stephanie ritt auf ihrem  Füller  durch das Vogelparadies wie auf einer riesengroßen Zigarre.  Sara  flog auf ihrem Schreibheft dahin. Es hatte sich in ein  Segelflugzeug  verwandelt. Vanessa träumte, ein liebenswerter Dinosaurier hätte sie ausgespuckt. So landete sie in hohem Bogen in  den Brennnesseln. Die zweite Julia hatte in ihrem Traum 35 Kaninchen  unter beiden Armen und rief immerzu: "Nehmt mich mit! Hilft  mir denn keiner!" Tanja träumte von  einem  großen   Lautsprecher  einer Stereoanlage. Sie schrie so laut in das Mikrofon, dass der  Lautsprecher explodierte.  Elena  rief im  Traum  ständig:  "Oma,  Oma, dir fehlt ein Schwein im Stall!" Und Franziska lachte und  lachte. Nach einiger Zeit sagte sie: "Jetzt will ich nicht mehr  lachen", und - weinte.

 

Was man in Träumen doch so alles erleben  kann. Johanna konnte sich im Traum selber sehen, jedoch als Baby. Und  das Baby Johanna schrie: "Hurrah, ich kann lesen!" Auch die andere  Tanja hatte einen ähnlichen Traum wie Johanna. Auch sie sah sich  als Kleinkind in den Armen ihrer Mutter und rief: "Ich kann malen. Ich kann malen!"  Daniela träumte von ihrem Rucksack, der  prall gefüllt war mit blauer Tinte. Dabei rief sie immer lauter:  "Meine Patrone ist leer, Tinte her! Tinte her!" Bahar sah im  Traum einen riesengroßen Kaugummi. Der roch total  stark nach Himbeeren. In der Ecke stand ein grauer Abfalleimer, in den sie den  Kaugummi in hohem Bogen hineinspuckte.  Katharina sprach laut im  Schlaf: "Nein, lass das. Hör endlich auf, du Nashornziege!"   

 

Auch die Jungen hatten in der Nacht ihre Träume. Kai sagte im  Traum zu Stefan: "Guck mal, ich kann im Sitzen liegen!" Da knallte der Stuhl plötzlich auf die Erde und Kai schrie: "Mama, komm  mal, was war das für ein Krach?"  Tim träumte von einer großen  Wiese. Auf dieser tummelten sich Hunderte von Marienkäfern. Einer  krabbelte Tim über die Nase und sprach: "Willst du ein paar Punkte von mir abhaben?" Stefan schrie laut auf: "Rechenblätter, Rechenblätter! Wo sind die Rechenblätter? Ich bin schon wieder fertig mit meinen Aufgaben."  Da kam seine Mama und fütterte ihn mit  Blätterteig.  Marco hatte auch einen Traum: Eine Maus knabberte  an seinem Schreibheft und Marco sprach zu ihr: "Nein, nicht!  Kannst du nicht schreiben? Dann diktier' ich dir was." Die Maus  sah Marco verdutzt an und piepste: "Dein Heft schmeckt lecker, besonders dort, wo du etwas aufgeschrieben hast." Oliver sah in seinem Traum einen Rucksack, der wie ein Fußball  aussah. Er schoss damit einen Elfmeter und elf Flaschen Limonade  gingen kaputt. Sie waren im Rucksack versteckt gewesen.  Dennis schlief sehr unruhig. Er wurde zu einem winzig kleinen  Männlein, das auf einer Computertastatur von Taste zu Taste hüpfte. Schließlich sprang es in einen Monitor hinein, erschien auf  dem Bildschirm und rief: "Sie hören die Tagesthemen!" Dann rief Dennis' Oma: "Dennis, runterkommen, bevor die Treppe abgeholt  wird!"  Der zweite Dennis träumte von einem Tintenkiller. Dieser besaß  Arme und Beine und konnte sehr schnell laufen. Er holte Dennis  immer wieder ein, während dieser rief: "Lass mich in Ruhe, ich  bin doch ein Füller und will mit dir nichts zu tun haben. Such  dir einen anderen Freund!"  Heiko träumte von einer großen Torte. In ihr waren verschiedene  Gänge. Diese musste Heiko als Polizist kontrollieren. So lief er  hin und her, auf und ab, und jedes Mal, wenn er jemanden traf, zum  Beispiel einen Käfer oder sogar den Maulwurf, schrie er: "Hau ab,  das ist meine Torte!"    Simon träumte vom Atlantischen Ozean. Dort schwamm ein großes  Zelt mitten auf dem Wasser, und Leute schauten heraus und riefen  Simon zu: "Schwimm rüber, komm her, du hast sicher noch nie ein  solch schwankendes Zelt erlebt! Das ist cool! Komm doch!"    Rickys Traum betraf natürlich das Fußballspielen. Ricky war doch  tatsächlich im Ball drin und sagte ihm, was er zu tun hätte. Auf  diese Weise hatte er zum Beispiel Borussia Dortmund zum Sieg verholfen. Nach dem Spiel war Ricky zwar etwas schwindelig und fand  auch zunächst nicht die Tür, um aus dem Ball wieder heraus nach  draußen zu kommen.  

Der letzte Träumer der Nacht vor dem Ausflug war Dominik. Er hatte eigentlich gar keinen eigenen Traum. Deshalb wurde er wach und  rief: "Warum träume ich nicht wie alle anderen Kinder dieser  Klasse?" Kaum gesagt, schlief er wieder ein und träumte. Er sah  alle Kinder der 3 b mit all ihren Träumen. Ja, das war sein  Traum. So verging die Nacht und draußen kroch der Nebel vom Boden  aus immer höher. Regen würde es vorläufig nicht geben.  

 

Am nächsten Morgen wachten alle Kinder der Klasse fröhlich auf.  Sie hatten auch allen Grund dazu, denn ihr Ausflug würde stattfinden. Wenn auch die Landschaft ganz in Nebel getaucht war, so  konnte man unschwer erkennen, dass darüber bereits die Sonne  schien, so hell war der Himmel, und das bereits am frühen Morgen.  Kein Regen und gute Laune - das passte zusammen!   

 

Die Kinder erzählten ihren Eltern noch vor dem Frühstück, dass  sie in der vergangenen Nacht geträumt hätten. Aber niemand konnte  sich an Einzelheiten erinnern. Julia umarmte ihren Hund und sagte: "Du kamst in meinem Traum vor, aber was du gemacht hast, habe  ich vergessen." Stephanie taten die Beine weh, als hätte sie  nicht im Bett gelegen, sondern eine Nacht auf dem Reithof bei Ilana verbracht.  Tanja berichtete von einem fürchterlichen Knall,  den sie im Traum wahrgenommen hätte.  Elena sprach zu ihrer Mutter: "Ich habe, glaube ich, von Oma geträumt. Jemand hat immer gesagt: “Da hast du aber Schwein gehabt." Der anderen Julia schmerzten die Arme, als hätte sie etwas Schweres getragen, und ihre  Mutter rief: "Seit wann stehst du am frühen Morgen mit krummen  Armen und Beinen vor mir?" Vanessa beschwerte sich mehrmals über ein Jucken und Brennen an  den Beinen. Franziska musste immer lachen, wenn ihr Vater ein Stück Würfelzucker in die Kaffeetasse fallen ließ. Sie stellte  sich nämlich dabei vor, das Stückchen Zucker spränge vom Fünfmeterbrett und würde dabei rufen: "Leider kann ich gar nicht  schwimmen und kalt ist mir auch nicht!"  Johanna kroch während des Frühstücks mehrmals über den Teppich. Sie musste natürlich  wieder lesen. Diesmal waren es die vielen Brotkrumen, die sie vom  Boden auflas. Die zweite Tanja goss sich Milch in den Kakao, und zwar Vanillemilch. Diese malte weiße Phantasiebilder in die braune Flüssigkeit und Tanja hätte sie am liebsten gleich abgemalt. Daniela fragte ihre Mutter: "Ist mein Rucksack eigentlich blau?"  "Wie kommst du denn darauf?" erwiderte ihre Mutter, "den Rucksack  hast du schon über ein Jahr, er ist doch gelb!" Bahar hatte am Frühstückstisch unwiderstehlichen Appetit auf Kaugummi. Aber den gab es jetzt natürlich noch nicht. Ihre Mutter  fragte verwundert: "Wieso kaust du heute morgen so lange auf deinem Brötchen herum, als ob es aus Gummi wäre?" Katharina erzählte, sie hätte von einem kleinen Nashorn geträumt, das so gerne  Ziegenmilch trank, dass es bald zu Ziegenkäse wurde und sich kaum  noch bewegen konnte. So hätten die Leute im Zoo immer gerufen:  "Nashorn - Trockenhorn - Ziegenmilch, nochmals von vorn: Nashorn,  Trockenhorn - Ziegenmilch, nochmals von vorn... !“   

 

Aber auch die Jungen erinnerten sich daran, dass sie etwas geträumt hatten, bekamen den Sinn aber ebenso wenig heraus wie die  Mädchen. Kai meinte, er hätte im Traum einen komischen Stuhl gesehen, auf dem ein Text eingeritzt war. Er lautete: "Wer auf mir  sitzt, von dannen flitzt!"  Tim wunderte sich über die vielen  Punkte auf seiner Nase, die zum Glück mit Seife und Waschlappen  zu entfernen waren.  Stefan beschwerte sich über das Frühstück.  Ohne Blätterteig heute morgen? "Es gab doch sonst immer Blätterteig!" schrie er, und seine Mutter sah ihn entsetzt an!  Marco  wollte gerade seine Schokoladencreme aufs Brot streichen, als er  plötzlich aufsprang, in die Arme seiner Mutter hüpfte und schrie:  "Eine Maus!"  "Spinnst du vielleicht?" entgegnete Marcos Mutter.  "Wir haben hier keine Mäuse und erst recht nicht beim Frühstück!"  Als Oliver aus dem Badezimmer kam, fragte er: "Darf ich mir etwas  wünschen?" Sein Vater antwortete verwundert: "Wie, am frühen Morgen schon ein Wunsch? Da musst du ja schon hellwach sein! Was  möchtest du denn?"  "Ich hätte gern einen Rucksack, einen ganz  neuen mit einem großen Foto von einem Fußball darauf!"  "Eigenartiger Wunsch“, meinte Olivers Mutter. Dennis untersuchte gleich nach dem Aufstehen, ob die Treppe noch  vorhanden war, die in sein Computerzimmer führte. Sein Namensvetter, also der andere Dennis, drehte sich auf seinem Stuhl ständig  nach hinten um, weil er glaubte, es stünde jemand hinter ihm. Während Heiko im Kühlschrank nach Torte suchte, sagte Simon zu  seinem Bruder: "Mir ist heute früh so schwindelig, aber ich fühle  mich prima dabei!"  Auch Ricky hatte ähnliche Probleme mit seinem  aufrechten Gang und sprach zu seiner Mutter: "In der vergangenen Nacht war es so dunkel, dass ich selbst im Traum meine Hand nicht  vor Augen sah."  

Dominik saß ganz ruhig am Tisch und bemerkte: "Ich habe in der  vergangenen Nacht alle meine Mitschüler und Mitschülerinnen der  Klasse 3 b  gesehen, und die haben mir im Schlaf all ihre  Träume erzählt. Wenn die wüssten, dass ich nun weiß, was sie alle geträumt haben! Aber ich kann schweigen! Traumgeheimnis! Auf dem  Weg zur Schule gehe ich nochmals alle Träume in meinen Gedanken durch, damit ich nur  ja keinen vergesse." Seine Mutter sah ihn verwundert an und sagte: "Wenn du dich nicht wohl fühlst, dann verzichte doch lieber auf den Ausflug, sonst verdirbst du hinterher den Kindern noch den Spaß, wenn sie einen Kranken mitschleppen müssen."  

Ja, das war eine Traumnacht! Aber außer Dominik wusste keiner,  was sich im Traum nun wirklich ereignet hatte. Auch Sara, die an  jenem Morgen als letzte aus den Bettfedern kroch, konnte sich nur  so ausdrücken: "Ich glaube, ich bin irgendwie geflogen. Aber ich  weiß nicht mehr, womit und wohin." "Hoffentlich fliegst du heute  während deines Ausflugs nicht hin“, meinte ihre Mutter. "Wohin  wandert ihr überhaupt?" wollte sie noch wissen.

"Wir wandern  durch das Vogelparadies, biegen aber nicht nach rechts zum Pferdehof ab, sondern gehen immer geradeaus weiter. Dort soll nach  ein paar hundert Metern der Zauberwald beginnen, den Herr Hoffmann uns zeigen möchte“, antwortete Sara.  "Zauberwald? Noch nie gehört, höchstens im Märchen. Na ja, Hauptsache, ihr seid alle  wohlbehalten zurück, wenn über Oedt und Mülhausen der Regen einsetzt“, meinte Saras Mutter.  

Die Kinder konnten es nun kaum noch erwarten, endlich mit ihren  prall gefüllten Rucksäcken das elterliche Haus zu verlassen und,  sei es zu Fuß, mit dem Schulbus oder mit dem Fahrrad, in Richtung  Schule zu streben. Gegen acht Uhr kamen dort alle Kinder der 3 b  an, und der Nebel war schon so dünn geworden, dass man den weiß  leuchtenden Ball der Sonne mit bloßen Augen betrachten konnte,  ohne dass es weh tat. Nur der Mann, der einen "totalen" Ausflug  versprochen hatte, fehlte noch und alle warteten auf ihn.

Den Morgennebel fanden einige Kinder toll. Man sah darin den weiß glühenden Feuerball der Sonne, aber so stark abgeschwächt, dass die Augen keinen Schaden nehmen konnten. Unter normalen Umstän­den durfte man so etwas natürlich nicht machen. Die Sonne würde dann sogleich die Augen verbrennen. So starrten immer mehr Kinder in die milchigweiße Sonnenscheibe, weil es einfach Spaß machte.

Doch auf einmal veränderte sich der helle Kreis am Himmel. Er bekam zunächst zwei Augen, dann einen Lachmund mit einem Oberlippenbart und zuletzt gesellte sich ein dunkler Kinnbart dazu. Ei­nige Kinder schrieen: "Unser Lehrer, seht doch, dort oben am Him­mel, unser Lehrer!" Auch die Kinder, die mit einer total verbeulten Getränkedose Fußball gespielt hatten oder auch die, die in einen Strauch geklettert waren, schauten jetzt zum Himmel empor. Einige ließen sogar ihre Fußballbilder fallen oder hörten mit Tischtennisspielen auf. Kinder anderer Klassen ließen sich hinge­gen nicht stören. Sie gingen ins Schulgebäude in ihre Klassen­räume, als gäbe es draußen nichts zu beobachten. Ihre Blicke konnte man etwa so deuten: "Was die 3 b bloß mal wieder hat! Kaum haben die einen Rucksack angeschnallt, drehen sie durch. Lasst uns nur ja in Ruhe!" So kam es dazu, dass nur die 3 b geschlossen zum Himmel empor schaute, während alle anderen Kinder, die noch zur Schule kamen, vorbei gingen, als wäre da gar nichts, zumindest nichts Besonderes. Und die Kinder der Parallelklasse, der 3 a, riefen im Chor: "3 b, o weh! 3 b, o weh!"  Doch die 3 b war so be­schäftigt mit ihrer Entdeckung, dass sie sogar Rektor Zander, der an jenem Morgen auf dem Schulhof Aufsicht führte, erst gar nicht bemerkte. Erst als ein Kind mit ihm zusammenstieß, musste dieses sogleich etwas loswerden: "Herr Zander, dort oben im Nebel, schauen Sie mal! Die Sonnenscheibe hat das Gesicht von Hoffi. Schon die ganze Zeit! Wie kommt das?"  "Ja, Kind!" erwiderte Herr Zander ruhig. Und plötzlich war die Sonnenscheibe mit ihrem Gesicht verschwunden. Stattdessen stand der Klassenlehrer mitten auf dem Schulhof. Die Kinder der 3 b umringten ihn und riefen ver­wundert: "Aber Sie waren doch noch gerade da oben am Himmel!"  "Ich? Am Himmel?"  "Ja, die Sonne hatte Ihr Gesicht!"  Der Klas­senlehrer tat erst ganz erstaunt und blickte ungläubig drein. Dann sagte er, als habe er plötzlich einen Einfall: "Ach so! Jetzt weiß ich, was ihr meint. Das liegt am Nebel. Ich fahre oft morgens zu­sammen mit der Sonne gemeinsam zur Schule, meist mit dem Fahrrad. Heute konntet ihr mich vor der Sonnenscheibe sehen, da der Nebel die Sonnenstrahlen stark abgeschwächt hat. Sonst seht ihr mich vor lauter Helligkeit nicht. Dann sollt ihr ja auch nicht in die Sonne schauen!"

Die Kinder wunderten sich wohl noch ein wenig, gaben aber dann Ruhe. Hoffi war ja für seine manchmal recht komischen Sprüche bekannt. Nur Kai bemerkte: "Eigentlich kann doch kein Mensch mit der Sonne zusammen losfahren. Die ist doch viel zu weit entfernt. 150 Millionen Kilometer! Außerdem "fährt" die Sonne nicht, sondern wird von der Erde umkreist, und das einmal in einem Jahr. Das mit Herrn Hoffmanns Gesicht in der Sonnenscheibe habt ihr euch nur eingebildet."

Nun musste sich der Klassenlehrer in­mitten des Kreises, zu dem sich die Kinder zusammengefunden hat­ten, nochmals zu Wort melden. Er sprach: "Kinder, ihr habt alle recht. Auch Kai. Man sieht eigentlich nie, was wirklich ist, sondern was für einen selbst große Bedeutung hat. Das ist die "Wirklichkeit". Ihr werdet dies, wenn ihr mal älter seid, vielleicht besser verstehen. Aber ihr werdet immer Probleme damit haben, was wirk­lich ist. Freut euch, dass wir gleich unseren Ausflug in den Zau­berwald beginnen. Seht, die Sonne ist schon wieder da! Ihre Scheibe wird immer heller und klarer. Ihr Licht braucht übrigens stets 8 Minuten, bis es unsere Erde erreicht. Da seht ihr wieder: Was heißt schon Wirklichkeit? Wenn ihr so wollt, ist das da oben schon Vergangenheit. Das  wirkliche Licht der Sonne sehen wir erst nach acht Minuten! Soll man deshalb sagen, dass das Sonnenlicht nicht „wirklich“ ist?"

Nun lichtete sich der Nebel und kroch von oben auf den  Boden zurück, als wollte er sich mit einem blauen Himmel zudecken, und kein Mensch dachte an Regen, als sich die Klasse auf den Weg machte.  

Die Klasse 3 b war inzwischen schon eine halbe Stunde unterwegs. Sie marschierte durch das Vogelpara­dies, vorbei am Eingang zur Schatzinsel, der gleich dicht hinter der Schleckbrücke ins mit dichten Sträuchern und Gestrüpp bewach­sene Gelände führte. Immer geradeaus ging es weiter. Alle kannten den Weg, denn alle waren ihn gemeinsam bereits mehrmals gegangen, um nach einer Viertelstunde rechts abzubiegen auf einen Pfad, der zu Ilana Lundströms Reithof führte. Diesmal ging es aber gera­deaus weiter in unbekanntes Gebiet, zum Zauberwald. Der begann in der eingeschlagenen Richtung irgendwo am Ende des Weges.

Herr Hoffmann tat sehr geheimnisvoll und gab auf die Fragen der Kin­der, wie weit es denn noch bis zum Zauberwald sei, warum es ein Zauberwald sei, ob es dort schön sei, ob es dort wilde Tiere gäbe, ob wir dort eine Frühstückspause machten, ob die Bäume dort dick und lang seien, ob es dort Hexen gäbe, ob wir dort Fußballspielen könnten - auf alle diese Fragen keine Antwort. "Wartet ab, Kinder, lasst euch überraschen!" war das einzige, was er erwiderte.

 

Nach­dem die Kinder noch eine weitere Viertelstunde gewandert waren, wurde es immer dunkler. Das lag daran, dass die Sträucher und die Bäume immer mächtiger wurden. Ihr Laubwerk verdunkelte den Himmel. Bald standen die Kinder vor einem riesigen Torbogen aus mit dich­tem Laub bewachsenen dünnstämmigen Bäumen und Sträuchern. Das war der Eingang zum Zauberwald. Kein Tor, keine Tür! Nur ein gro­ßer Bogen aus Holz und Laub. Dahinter erstreckte sich ein dichter Wald mit großen alten Bäumen, durch deren Laubwerk die Sonne nur wenige Strahlen hindurch zu senden vermochte.

Am Eingang stand an der rechten Seite ein kleines Häuschen, zusammengezimmert aus Holzbalken und Teerpappe, mit einem kleinen Fenster zur Vorder­seite hin, mit Blick auf den Eingang. Niemand schien sich im In­nern aufzuhalten. Musste man kein Eintrittsgeld bezahlen? War der Besuch des Zauberwaldes kostenlos? Nein! Simon entdeckte als ers­ter ein Schild. Auf dem stand: "Eintrittsgelder erst nach dem Be­such des Zauberwaldes entrichten." So wanderte die Klasse 3 b frohen Mutes in den Zauberwald hinein. Jedes Kind war gespannt darauf, was es wohl dort an Besonderheiten geben würde. Herr Hoffmann hatte ja von einem "totalen" Ausflug gesprochen. Doch alles, was die Kinder nach dem Durchwandern des großen Torbogens wahrnahmen, bestand aus alten hohen Bäumen und Gestrüpp. Das sollte ein Zauberwald sein?  Aber man muss schon Geduld aufbringen, um bisweilen Neues zu entdecken. Dies galt auch für die 3 b.

 

Als  schon  viele   ungeduldig   wurden  und   einige   sich sogar zu langweilen begannen, weil der Zauberwald außer alten Bäumen und Sträuchern nichts zu bieten hatte, gab es einen fürchterlich lauten Knall, so dass alle zusammenfuhren. Wie aus einem riesigen Lautsprecher ertönte Tanjas Stimme: "Weitergehen, geradeaus, an der nächsten Kreuzung rechts einbiegen, erst dann seid ihr auf dem richtigen Weg!" Die gesamte Klasse setzte sich nun recht schnell in Bewegung und bog an der nächsten Kreuzung nach rechts ab. Jetzt würde der Zauberwald seine ganze Pracht entfalten.  Der Hunger und der Durst hatten sich inzwischen bei allen Kindern der Klasse gemeldet. So war der Zauberwald zunächst einmal nicht ganz so wichtig wie die mit Speisen und Getränken prall gefüllten Rucksä­cke. Zunächst mussten die Mägen etwas zu tun haben, danach würden die fünf Sinne wieder wach werden.

Dieses Frühstück war toll! Es wurde nicht in dem muffigen Klassenraum eingenommen, sondern in der frischen Waldluft. Der Wald sah übrigens etwas anders aus als vorhin, bevor wir auf Tanjas Rat hin nach rechts abgebogen waren. Die Sonnenstrahlen drangen sogar durch dichtes Laubwerk und tauchten den Waldboden in ein weißes, leicht zitronengelbes Licht. Die Gesichter der Kinder erstrahlten darin, als würden sie mit einem großen Scheinwerfer angeleuchtet. Es war sehr still, denn die meisten Kinder kauten oder nuckelten an ihren Trinktü­ten und Flaschen. Da rief Heiko plötzlich und unvermittelt: "Meine Mutter hat gar keine Torte eingepackt! So ein Mist!" Domi­nik hörte man sagen: "Ich mag den Käse nicht. Wie der stinkt! Wie Katharinas Ziegenkäse! Kathi, magst du den? Ich gebe ihn dir."  Doch Katharina winkte ab. Woher wusste Dominik, dass sie eine Be­ziehung zu Ziegen und Käse hatte?  Die Kinder aßen und tranken, tranken und aßen, kauten und einige schmatzten sogar dabei. Auch war hin und wieder deutlich ein Schlürfen zu hören. Manche tauschten Süßes ge­gen Saures, Hartes gegen Weiches, Grünes gegen Rotes, Rundes gegen Eckiges, Schweres gegen Leichtes, Braunes gegen Weißes, Äpfel gegen Birnen, Bananen gegen Apfelsinen, Lutscher gegen Kaugummi und nette gegen böse Worte.

Simon tauschte ein Leberwurstbrötchen gegen einen Glitzerstein, den Bahar im Wald gefunden hatte. Und Bahar versetzte ihr Salamibrötchen und erhielt dafür von Dennis einen Riesenkaugummi mit Waldmeistergeschmack. 

 

Nachdem sich alle Kinder durch mitgeschleppte und untereinander getauschte Speisen und Getränke gestärkt hatten, versammelten sie sich im Schatten einer wohl mehrere hundert Jahre alten Eiche. Solch einen dicken und knorrigen Baum hatten die Kinder noch nie in ihrem Le­ben jemals gesehen. Er besaß ein dunkelgrünes Laubwerk, doch seine kräftigen Äste ragten an ihren Spitzen kahl in den hellen Himmel hinaus, als wären sie längst abgestorben. Dieser Baum hatte es den Kindern angetan. Ricky versuchte hinauf zu   klettern, doch einer der unteren Äste brach ab und Ricky landete mit ihm auf dem weichen Waldboden gleich neben Danielas Rucksack. Da meldete sich auf einmal Stefans Stimme: "Ich denke, das ist hier ein Zau­berwald. Ich sehe aber keinen Zauberer, nur Wald. Wer zaubert denn hier? Ist ja langweilig."  Da lief auf einmal  ein Hund hinter Stefan her. Er rief: "Ich heiße Ole, und wie heißt du?" "Ich bin Stefan! Du kannst ja sprechen!" Hoch droben im Baum saß ein Rabe und krächzte: "Ich bin Leo, Leo, Leo! Ihr kennt mich doch!" "Na­türlich, aus dem ersten Schuljahr, du gehörst zu den Tobis! Wie geht es denn dem Opa und der Oma, was machen Mama und Papa? Was ist mit Alo und Ela? Lebt Tante Lili noch? Und Tante Ina? Hat euch der Wolf noch belästigt? Oder ist er inzwischen gestorben?" frag­ten die Kinder aufgeregt. Sie hatten noch weitere Fragen: "Seid ihr Tobis noch alle so wie früher zusammen?" Leo krächzte: "Ja, wir sind noch komplett: Alo und Ela, Leo und Ole, Opa und Oma, Mama und Papa, Ina und Lili, die Biber, der alte Uhu, der riesige Bär, Elas Freundin Sylvia mit ihrem Pony. Wir leben alle noch und treffen uns in jedem Jahr im September."  "Toll!" riefen da die Kinder, wir hatten euch inzwischen schon fast vergessen! Wenn wir gewusst hätten, dass ihr ganz in unserer Nähe lebt! Ihr habt uns das Lesen und Schreiben beigebracht. Vielen Dank dafür!"  "Oh, bitte!" krächzte Leo, "ich werde der Tobi- Familie erzählen, dass ich euch getroffen habe." Sodann erhob er sich in die Luft und flog davon.Während die Kinder ihm noch nachschauten, vernahmen sie in einer Baumkrone ein Rascheln. "Seht, ein Eichhörnchen!" rief Julia. "Eichi, Eichi!" schrieen alle Kinder. War das nicht ihr Eichhörnchen, das ihnen im 1. Schuljahr tolle und spannende Geschichten über die Tobis und den Tobiwald erzählt hatte? Das Eich­hörnchen sprang von Ast zu Ast und bald war es aus den Blicken der Kinder verschwunden. "Ob es uns nicht wiedererkannt hat?" fragte Elena. "Vielleicht waren wir einfach zu laut und haben es ver­scheucht“, meinte Franziska. "Das mit den Tobis habt ihr euch nur eingebildet!" rief Kai. "Raben gibt es überall, ebenso Hunde und Eichhörnchen. Das müssen nicht Leo, Ole oder Eichi gewesen sein!" "Ihr habt wieder alle recht," meldete sich der Lehrer dazwischen. "Wirklich ist nur das, was wichtig für euch ist. Wenn Leo dein Freund geworden ist, wirst du jeden anderen Raben mögen. Wenn Ole dir etwas bedeutet hat, wird dir jeder andere Hund nicht gleichgültig sein. Wenn du Eichi mochtest, wirst du jedes Eichhörnchen lieb haben." Ähnliches hatten die Kinder doch heute schon einmal gehört. Nun meldete sich Stefan: "Ich hatte erst den Verdacht, der Hund hinter mir sei mein "Flöckchen". Flöckchen habe ich nämlich sehr gerne. Nun meinten wirklich einige Kinder, sie hätten im Zauberwald ihre Bekannten aus der Tobi - Fibel wiedergetroffen. Damit hat­ten sie nicht gerechnet. Der Wald war riesengroß und schien nir­gendwo ein Ende zu haben. Ein Hase lief Haken schlagend vor den Kindern über den mit verfaulten Blättern bedeckten Waldweg, der immer breiter wurde. Erneut war ein Krächzen zu vernehmen. Alle Kinder schauten zu den Baumkronen empor. Einige meinten einen da­von huschenden Schatten wahrzunehmen. Hin und wieder raschelte es im Geäst. 

Nach einer weiteren Viertelstunde teilte sich der Weg. Die Kinder blieben stehen, weil sie nicht wussten, in welche Richtung sie gehen sollten und warteten auf ein Zeichen ihres Leh­rers. Da meldete sich Ricky zu Wort: "Wir müssen uns links hal­ten. Dieser Weg führt zu mir nach Hause. Ich wohne hier ganz in der Nähe." "Hier? Im Zauberwald? Seit wann?" wollten mehrere Kin­der wissen. "Schon immer, ich habe es euch nur noch nicht verra­ten! Herr Hoffmann weiß das schon lange." Ungläubig starrten die meisten Kinder in Rickys Gesicht. Ob das stimmte, wollte nun jeder wissen.

So rannten sie los in die vorgeschriebene Richtung, im­mer weiter, immer geradeaus, bis sie ganz aus der Puste waren und kaum noch laufen konnten. "Ricky, wo wohnst du denn nun? Das ganze war doch wohl ein Scherz!" meinte Kai.  Ricky holte tief Luft, so tief, als hätte er eine Menge zu sagen und müsse es gleich heraus­bringen: "Ich muss euch etwas sagen. Ich wohne nicht so wie ihr es vielleicht vermutet. Ich habe alles so umgebaut, dass ich mich wohlfühlen kann. Seht ihr dort hinter der mächtigen Buche das Gartenhaus? Dort wohnt meine Mutter mit meinem Bruder Thomas. Ich kann jederzeit dort hingehen, dort wohnen, frühstücken, zu Mit­tag und zu Abend essen. Doch ich habe mir in diesem Wald auch mein eigenes Reich geschaffen. Wir müssen nur noch ein Stück weitergehen. Seht ihr dort drüben die Mauer aus Bruch-  und Ziegelsteinen? An einer Stelle, die etwas dunkler aussieht, ist ein großes Loch. Wenn ihr da durchsteigt, seid ihr in meinem Reich."  Alle Kinder setzten sich sofort in Bewegung, denn jeder wollte Rickys Reich möglichst als erster kennen lernen. So sah man 24 Kinder durch ein großes Mauerloch kriechen. Als alle hindurchgelangt waren, weiteten sich ihre Augen. Vor ihnen lag ein großes Stadion, rundherum Hunderte, Tausende von Zuschauerplätzen. Dahinter dichter Wald und undurchdringliche Hecken. "Ricky!" riefen die Kinder, "das gehört dir?"  "Ja“, erwiderte er, "das Stadion hier im Zauberwald habe ich für mich anlegen lassen. Das war nicht ge­rade billig. Aber bezahlt habe ich alles von der Ablösesumme, die ich vor einem Jahr vom Fußballverein "Schleckbomber" kassiert habe. Aber Schleckbomber kann mich nun nicht mehr länger finanzie­ren, und seit gestern spiele ich wieder für Borussia Oedt." Die Kinder der 3 b konnten es noch immer nicht fassen, dass dieses vor ihren Augen liegende Fußballstadion ihrem Mitschüler und Freund Ricky gehörte, dem klassenbesten Fußballspieler. Auf einer großen Anzeigetafel waren bereits die nächsten Spiele aufgeführt. Ricky selbst hatte sie arrangiert. Er wollte bislang wenig bekannte Fußballmannschaften fördern und diese einer breiten Öffentlichkeit vorstellen in seinem Stadion, vor Tausenden von Zu­schauern.

Folgende Begegnungen sollten in der nächsten Zeit, meist samstags, ausgetragen werden:  "Kleinbahn Kickers" gegen die "Jo­hann  Fruhen  Bomber". "Girmes   Hopser" gegen "Bergweg  Banausen". "Marienschule - Flöten" gegen "Burg - Uda - Kicker". "Klixdorf 04" gegen "Sauna  Club". "Vorster Knaller" gegen "Safaria Graverdyk". "Hei­mer Waldschnepfen" gegen die "Butzen Fetzer".

Auch überregionale Mannschaften sollten vermehrt teilnehmen. So würden sich bald die "Dollar  Bananen" mit den "Euro  Ball  Pumpern" aus Maastricht messen. Ricky wollte auch Länderspiele organisieren. So sollten in einem Spiel die "Weimarer Schillerlocken" mit den "Düsseldorfer Radschlägern" zusammentreffen. Auch war ein Spiel zwischen den "Berliner Ballen" und den "Thüringer Rostbratwürstchen" geplant.

Ricky hatte sogar noch größere Pläne. Er wollte in seinem Stadion die Mannschaften Chinas und der USA zusammenbringen: "Ching -    Chang  -  Bumm  -  Summ" Peking gegen "Pommes  Frites - Rülps - Mc. Don" Chikago. Weiterhin war ein Spiel zwischen Sack - Don  Weißrussland" gegen "Müllermilch  Bavaria" geplant.

Die Kinder staunten nicht schlecht.  Sie riefen: "Dürfen wir beim nächsten Spiel mal dabei sein?" "Aber ja," erwiderte Ricky. "Eine Eintrittskarte kostet allerdings 1200 DM." "Hast du nicht alle beisammen?" beschwerte sich Tanja." Dafür müsste ich mein Taschengeld so lange zurückle­gen bis ich Uroma bin!" Doch Ricky stellte sich vor die Kinder der Klasse und rief: "Beim nächsten Spiel seid ihr alle meine Gäste! Keine Kosten!" Da grölten und jodelten die Kinder vor Freude. "Wir kommen alle!" riefen sie.  „Wann ist das nächste Spiel?" "Am kom­menden Samstag ab 16 Uhr." "Wer spielt?"  "Hahnenweide 09 gegen die Graver-Dicken vom Erkeshof." "Spielst du selbst mit?" wollte Marco wissen. "Willst du mich beleidigen?" gab Ricky zurück. "Das sind die größten Flaschen weit und breit. Diesen Mannschaften muss ich erst einmal beibringen, dass ein Fußball rund ist und keine Ecken hat!

Stellt euch vor: Beim letzten Training gab es ei­nen Eckstoß für die Graver-Dicken. Meister Mutz, der den Eckstoß ausführen sollte, schrie den Schiedsrichter an: "Den Ball mit den Ecken her! Wie soll ich mit einem runden Ball einen eckigen Stoß machen?" Daraufhin zeigte ihm der Schiedsrichter Heini Hecken­schuss den Vogel und schrie: "Du hast wohl 'ne Ecke ab! Schieß endlich!" Das tat er dann auch widerwillig und zog das runde Leder in die rechte Ecke des Tores. Alle schrieen: "Tooor!" Meister Mutz nahm das persönlich und erstattete Anzeige gegen alle Zuschauer. Er, ein Tor? Ein Dummkopf? Ein Tölpel? Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen.

Nun ist er erst einmal gesperrt, der Meister Mutz, wegen unsportlichen Verhaltens. Doch der Verein "Schussmuf­fel Anrath" hat bereits sein Interesse am Spieler Mutz bekundet und will eine Ablösesumme bezahlen, die sich gewaschen hat. Mutz ist für Geldwäsche ebenso gut zu gebrauchen wie er begehrt ist we­gen seiner originellen Dummheit. Wenn er vor dem Hohen Gericht erscheinen muss, verlangt er sofort den Linienrichter. Ja, wenn er erst einmal bei "Schussmuffel Anrath" spielt, wird er schon be­weisen müssen, was er kann. Die Leute in meinem Stadion werden ihn verehren, auf die Anzeigetafel starren und rufen: "Schriften und Zahlen auf der Wand, wer ist der beste Spieler im Land?" Und auf der Anzeigetafel wird eine Leuchtschrift erscheinen: "Meister Mutzi, du spuckende Kuh! Der Ricky spielt tausendmal besser als du!" So beendete Ricky seinen Vortrag.

Alle Kinder hatten Ricky aufmerksam zugehört. Natürlich war er besser als Meister Mutz, den ja sowieso keiner kannte. Nun wollten sich alle das Stadion ein­mal genauer ansehen und strömten aus einander. Ricky holte sofort einen Fußball und trainierte mit seinen Leuten aus der 3 b. Auch zwei Mädchen waren darunter: Bahar und Franziska. Der Rest der Klasse schwärmte umher und bedauerte, dass es keine Taue zum Schwingen gab. So hingen sie sich einfach an die Äste und stram­pelten mit ihren Beinen in der Luft herum. Das machte auch Spaß. Doch nach einer halben Stunde ertönte Hoffis Triller­pfeife. So standen die Kinder bald traubenförmig um ihn herum. Man konnte ihren Gesichtern entnehmen, dass sie noch gerne länger in Rickys Stadion geblieben wären, aber die Wanderung musste fortge­setzt werden. So gingen sie bald vergnügt weiter und kamen, wenn auch an einer anderen Stelle, auf den alten Weg zurück, von dem aus sie den Abstecher zu Ricky unternommen hatten. Dieser Weg war mit einer dicken vermoderten Laubschicht bedeckt und ziem­lich glitschig.

Schon lag Marco auf der Nase, besser gesagt: auf seinem linken Knie. Dabei hatte ein Stein unter dem Laub seine Haut aufgeschürft und es blutete ziemlich stark. Doch bereits nach den ersten Hilferufen kam Bahar wie ein Düsenjäger mit der Erste - Hilfe - Tasche angeflogen. Marcos Knie wurde mit einem Wund­verband versehen und bald nach diesem "Kniefall" marschierte die Klasse 3b  schon wieder weiter. Der Weg schien endlos gera­deaus zu führen. Er war jetzt von beiden Seiten von recht jungen Bäumen gesäumt, deren Wipfel sich zueinander neigten und den Eindruck eines grünen Tunnels hervorriefen, durch den die Klasse wie ein Tausendfüßler dahin kroch.  Als die Kinder wiederum eine Zeitlang unterwegs waren, wurde es über ihren Köpfen allmählich immer heller. Der lange, endlose, tunnelartige Weg mündete in einen großen Platz,   fast so groß wie ein Fußballfeld., umrahmt von uralten Buchen und Eichen, die ihr Laubwerk wie eine große Mauer empor reckten. In dieser Lichtung befand sich ein Abenteuerspielplatz. Die Kinder konnten schon von weitem die zahlreichen Holzbauten erkennen, auf denen sich einige Kinder herumtummelten: Hängebrücken aus Holzbalken, Burgen, Klettergerüste, Sandkästen, Holztürme und Gerüste, Zäune, Treppen, Kriechtunnel, Buden, Aussichtsplattformen usw. Diese Überraschung nahm die Aufmerksamkeit der Kinder völlig in Anspruch.

Aber, wieso waren sie hier nicht allein? Wer waren die fremden Kinder auf dem Spielplatz? Wo kamen sie her? Machten sie auch einen Ausflug? Kamen sie vielleicht von einer Grundschule in Grefrath? Nein, so dunkelbraun waren keine Kinder aus Grefrath! Einige sahen fast schwarz aus! So gerne die Kinder der 3b auch diesen Spielplatz nur für sich alleine gehabt hätten, so neugierig waren sie andererseits, etwas über jene fremden, dunkelhäutigen Kinder zu erfahren, die sich auffallend ruhig bewegten und spielten.  Tanja sprach eines der fremden Mädchen einfach an: "Wie heißt du?"

"Hallo,  ich  heiße  Nita  und  lebe  in  Tansania,  in  einem ostafrikanischen  Land.  Als  ich  fünf  Jahre alt war, wurde ich schwer  krank.  Es  dauerte  lange, bis ich wieder gesund war und aufstehen  konnte,  und  wer bist du?"

"Ich bin die Tanja, unsere Klasse  macht  einen Ausflug. Erzähle doch weiter!"  "Nach meiner Krankheit  konnte  ich  nichts  mehr  sehen. Verzweifelt rieb ich meine  Augen, doch es blieb dunkel. Ich war blind. Meine Eltern taten  alles,  um mir zu helfen. Es war umsonst. Doch eines Tages kam  ein  Freund von meinem Vater zu Besuch. Er sagte, es gäbe in einem  hundert  Kilometer  entfernten Ort, in Irente, eine Schule, in der  blinde  Kinder Lesen und Schreiben lernten, und zwar so gut, dass  sie später allein zurecht kommen könnten. Ich hörte gut zu. Ob es wohl dort einen Platz für mich gab? Vater fuhr mit mir nach Irente  und  sprach mit dem Schulleiter. Ich durfte bleiben! Mein Vater  fuhr  wieder nach Hause zurück. Nun war ich allein mit den vielen fremden Kindern und Erwachsenen.

Anfangs hatte ich Heimweh nach  meiner  Familie  und  meinem  Dorf." Inzwischen hatten sich mehrere Kinder der 3b um Nita geschart und hörten aufmerksam zu. "Wie  war es denn in dieser Schule? Erzähle weiter!" drängte Tim. "Alles  war  dort so neu“, fuhr Nita fort, "völlig anders als ich es  gewohnt  war.  Doch  nach  ein  paar  Tagen  hatte  ich  mich eingelebt.  Mein  Heimweh  verflog  und  das neue Leben in Irente begann  mir  Spaß zu machen. Ich lebte mit vielen anderen Kindern zusammen,  die  auch blind waren und die gleichen Probleme hatten wie ich. Bei uns gibt es sogar blinde Lehrer.  Wenn  jemand  in  die Heimfamilie kommt, versammeln sich alle auf dem  Schulhof. Dann kommt der Fotograf und macht ein Bild von uns allen, damit wir es unseren Eltern schicken können."

Jetzt    sprang   Nita  plötzlich  auf  und  kletterte  über  die Strickleiter  hinauf  zum  Römerturm. Dabei rief sie: "Fangt mich doch,  wenn  ihr  könnt!" Das ließen sich die Kinder der 3b nicht zweimal  sagen  und  liefen hinter Nita her. Doch so sehr sie sich auch  abmühten,  Nita  zu fangen, es gelang ihnen nicht. Nita war stets etwas schneller und in ihren Bewegungen sehr geschickt. "Du kannst  ja  gar  nicht  blind sein!" rief Simon, "wie könntest du dich  sonst  so problemlos fortbewegen und hier herumrennen, ohne irgendwo  anzustoßen  oder vorzulaufen!"  "Du bist noch nicht gut genug  informiert“,  gab  Nita  zurück,  "wir  sind  doch hier im Zauberwald.  Hier  erhält  jeder  Blinde so lange sein Augenlicht zurück wie er einen sehenden lieben Menschen um sich hat. Als du, liebe  Tanja,  mich so nett ansprachst, wurde es sogleich hell um mich  und  ich  konnte  wieder alles erkennen."  "Das gibt's doch nicht!"  meinte  Dominik.  "Und wenn nun jemand nicht nett zu dir ist,  dich  beschimpft, schlägt  oder beleidigt?" "Dann erblinde ich wieder augenblicklich  und  alles ist so dunkel und trostlos wie zuvor“, antwortete  Nita.  "Komm,  das  probieren wir mal aus“, flüsterte jemand  aus  der  Klasse.  Und dann schrie einer: "Nita, du blöde Kuh,  hau  endlich ab!"

Kaum waren diese Worte verhallt, als Nita innehielt  und sich mit beiden Händen am Geländer der Hängebrücke festhielt.  "Jetzt  bist  du gefangen, jetzt hab' ich dich!" rief Elena.  "Das  ist unfair!" meinte Oliver, "ein blindes Mädchen zu fangen,  ist  ja wohl kein Kunststück!"

So hatten die bösen Worte eines  Kindes, auch wenn  es gar nicht so gemeint war, Nita tatsächlich wieder  blind gemacht. Sie stand traurig und hilflos da  und  hatte  Tränen  in ihren Augen. Die Kinder staunten, dass auch erblindete Augen noch so schön aussehen können. Doch alles wurde rasch wieder anders, als viele Kinder nahezu gleichzeitig sprachen:  "Nita,  sei  nicht traurig, du bist so nett, wir mögen dich doch alle, du hast nur die Wahrheit gesagt, erzähle doch noch mehr von deiner Blindenschule!"

Sofort  begannen  Nitas  Augen zu funkeln, sahen dunkel und noch schöner  aus, als sie Halt in den Augen der weißen Kinder suchte. Sie konnte wieder sehen! 

Daniela  fragte:  "Sind  die anderen dunkelhäutigen Kinder auch blind? Gehören  sie  auch  zu  der  Blindenschule? Ist das deine Klasse, Nita?"  "Ja“,  antwortete  sie,  "alle sechzehn Kinder gehören zu meiner  Klasse.  Alle hatten ein ähnliches Schicksal wie ich. Sie haben durch eine schlimme Krankheit ihr Augenlicht verloren. Doch zurzeit sind sie alle geheilt wie ich. Solange im Zauberwald nur irgend jemand  nett zu mir ist und mir zuhört, können auch all die anderen  Kinder  meiner  Klasse  sehen." "Das  ist toll!" rief Stephanie.  Doch wer ist der große Mann dort auf der Bank mit dem dunklen  Gesicht  und  dem  krausen  Haar?" "Das ist unser Lehrer Butu",  erwiderte Nita. "Unter normalen Bedingungen ist er ebenso blind  wie  wir,  aber  auch  er  kann  sofort wieder sehen, wenn irgendeiner aus unserer Klasse sein Augenlicht zurück bekommt." 

Herr  Hoffmann  ging auf Lehrer Butu zu, reichte ihm die Hand und sagte:  "Schön,  dass  wir  uns  hier  treffen! Das ist aber eine Überraschung!  Ganz toll!" "Find ich auch!" entgegnete Butu. "Die Kinder  kommen  recht  gut  miteinander  aus.  Sehen Sie, wie sie miteinander  spielen  und sich unterhalten. Sollen wir uns nicht einmal in einem Kreis zusammensetzen?" "Ja, natürlich,“ erwiderte Herr  Hoffmann  und trillerte auf seiner Pfeife. "Oh, wie laut, muss  das sein?" meinte Mister Butu. Sind ihre Kinder schwerhörig oder  etwa  auch  blind?  Bei  mir  geht  das so, wenn die Kinder herkommen  sollen,"  und  er  schnippte  ein  paar Mal  mit seinem rechten    Daumen  und  dem  Mittelfinger.  Sogleich  eilten  seine Kinder herbei.   

"Wir   Blinden  haben  ein ausgezeichnetes  Gehör,  müssen Sie wissen, wir "sehen" sozusagen mit den Ohren!" fügte Butu hinzu.  Bald  hatten  sich  alle  Kinder,  24 weiße, 16 aus Afrika in einem großen  Kreis  auf  dem  weichen Waldboden niedergelassen. Einige konnten  sich nicht zwischen Hinhocken und Hinsetzen entscheiden, da  ihre  Beine  nicht recht wussten, was sie für bequemer halten sollten.

So wählte Dennis die Position der Seitenlage, wobei sich die    ausgestreckten  Beine  entspannen konnten und der Kopf zusätzliche Entlastung durch den auf dem Ellenbogen aufgestützten rechten  Arm  erfuhr,  da die Handinnenfläche genug Raum bot, die rechte  Wange  abzustützen. 

Wichtiger, viel bedeutsamer als das Sitzproblem auf ebener Erde war die Sache mit dem Augenlicht. Die Kinder wurden nachdenklich, sowohl die, für  die  es selbstverständlich  war  zu sehen, als auch die, welche im Dunkeln gelebt hatten und nun plötzlich wieder sehen konnten. Die Augen aller waren weit offen. Niemand war blind! Die, welche von Geburt an  schon  immer  sehen  konnten,  meinten, nun mehr zu sehen als vorher.  Und  die,  die  durch  Krankheit  erblindet waren, sahen ebenfalls  mehr,  was  sie  den  Kindern  aus  Oedt und Mülhausen verdankten.  Ach, wenn  es doch so bliebe!

So sahen sich alle Kinder an und kamen ins Gespräch. "Wir sollten uns einander vorstellen",  meinte  Herr  Hoffmann.  "Wer  fängt  an? Wollt ihr nichts loswerden?"  

Butu  sprach: "Bitte, meldet euch zu Wort! Wartet, bis ihr an der  Reihe seid und hört dem, der gerade spricht,  aufmerksam  zu!" 

Die  Kinder der 3 b kannten das. Also galten auch in Afrika dieselben Gesprächsregeln.   

Da meldete sich Rinka, einer der kleinsten dunkelhäutigen Jungen zu  Wort:  "Der erste Tag in der neuen Umgebung in der Schule war aufregend  und  voller  Überraschungen. Ich lernte die Kinder und die  Lehrer  kennen.  Alle waren nett zu mir. Unsere Klassenräume sind  ziemlich klein, aber das macht nichts." Danach meldete sich Lotus  und sprach:  "Für uns blinde Kinder ist es gar nicht so leicht, mit unseren ungeschickten Händen etwas Nützliches zu tun. "Mensch ärgere dich nicht" kann sehr ärgerlich werden, wenn die Figuren  ständig durcheinander purzeln."  Hani meinte: "Ich gehe gern zur Schule. Das Lernen macht mir Spaß, immer wieder erfährt man etwas Neues. Wir blinde Kinder freuen uns über unsere Erfolge genauso wie andere." Nun war Riva dran: "Seit ich in der Schule bin, ist für mich alles anders geworden. Ich sitze nicht mehr traurig herum und bin nicht mehr so verzweifelt, weil ich nicht mehr sehen kann. Ich bin froh, dass ich dort sein darf." Kork, ein  etwas  dicklicher, für sein Alter etwas zu klein geratener, pechschwarzer Junge  meinte:  "In   meiner  Klasse gibt es keine Wandtafel und  keine bedruckten Schulbücher. Meine  älteren Geschwister haben  mir  oft erzählt, was der Lehrer an die Tafel schreibt  und was sie in den Schulbüchern lesen müssen. Wir lesen mit den Fingerspitzen. Die Blindenschrift besteht aus verschieden angeordneten, in das Papier gestanzten Punkten, die wir mit den Fingerspitzen ertasten. Am Anfang war es schrecklich schwer. Doch jetzt kann ich schon lesen und kenne viele Wörter und Sätze. Auch unsere blinden Lehrer lesen mit den Fingern."

Sweta,  ein  lang gestrecktes  Mädchen,  ziemlich  dünn,  mit zwei kurzen  schwarzen  Zöpfen, ergriff als nächste das Wort: "Rechnen ist  eigentlich  gar  nicht  so  schwer.  Wir  legen geometrische Figuren  mit  Kronendeckeln  von  Sprudelflaschen.  Wir  haben in unserem  Klassenraum ein Wandbrett, wo wir das Zählen und Rechnen lernen.  Unsere  Schulleiterin,  Frau  Machhimbo,  hat sich viele solcher  einfachen  Hilfsmittel  ausgedacht.  Bei  ihr  macht der Unterricht  deshalb  richtig  Spaß." 

Lumbo, ein Junge mit leicht geröteten  Augen  und  auffallend  langen dünnen Armen, natürlich total dunkel, abgesehen von seinen leuchtend weißen Zähnen, die beim Reden schlagartig etwas hervor traten, meinte: "Unterricht und Spiel gehören bei uns zusammen. Viele können sich einfach nicht vorstellen,  wie  gerne  wir  singen,  spielen und tanzen. Manche Leute  denken  immer,  dass blinde Kinder gar nicht fröhlich sein können!  Haben  die  eine Ahnung! Wenn wir erst einmal angefangen haben zu tanzen, finden  wir  kein  Ende  mehr  und sind total ausgelassen.  Wir sind froh, dass wir beisammen sein dürfen, dass wir  Freunde haben, dass gute Lehrer und Helfer uns betreuen, die mit uns spielen und lernen. Das finden wir prima!" 

So redeten die Kinder, um die es normalerweise immer dunkel war und die sich jetzt, leider nur für kurze Zeit, ihres zurückerhaltenen Augenlichts erfreuen konnten, hier im Zauberwald,  in dem sie mit den lieben Kindern der 3 b zufällig zusammengetroffen  waren  und  die  ihnen  die  Augen  durch ihre Zuneigung  geöffnet  hatten.  

Muamba konnte es kaum erwarten, als nächste  dran  zu  kommen  und etwas los zu werden: "Um sechs Uhr früh  beginnt  bei  uns schon der Tag. Wir waschen uns und putzen unsere  Zähne.  Die Lehrerin hilft nur, wenn einer gar nicht mehr zurechtkommt. Selbstverständlich machen wir unsere Betten selber. Das  haben  wir  in  kurzer Zeit gelernt. Jeden Morgen werden die Laken  ganz  abgezogen  und  neu  auf die Matratze gelegt. Darauf kommen ein Betttuch, eine weiche Wolldecke und die Tagesdecke, die sich  jedes  Kind  selbst  gehäkelt  hat. Frau Machhimbo ist sehr zufrieden  mit  uns.  Sie  sagt, dass unsere Zimmer immer tiptop aussehen." 

"Das  machen  wir  aber auch!" rief Kai dazwischen. "Wir haben in unserer  Klasse  einen Ordnungsdienst eingerichtet, der jeden Tag nach  dem  Unterricht  für  einen sauberen Klassenraum sorgt. Wir sammeln  Papier  auf  und  kehren den Schmutz zusammen, Ricky und ich."  "Habt  ihr denn auch einen Garten?" wollte Ritinga wissen. "Wir,"  fuhr  Bongo  fort, "arbeiten am Nachmittag im Garten. Wir haben  Plantagen und Gartenanlagen, die wir selber instand halten. Vielleicht  denken  manche,  dass  blinde  Kinder  keine  geraden Furchen  ziehen  können.  Die sollten sich nur mal unsere schönen Gemüsegärten  ansehen!  Wir  können  gut  mit  Hacke  und  Spaten umgehen. Im Nu ist ein neues Beet entstanden, dann wird ausgesät. Nur  das  Unkrautzupfen  ist eine etwas beschwerliche Sache, weil wir  Unkraut und Nutzpflanzen als Blinde nur schwer unterscheiden können." 

Bonga,  die Zwillingsschwester von Bongo, ergänzte: "Das meiste,  was wir  in  den  Gärten  ernten, wird in unserer Küche verwendet.    Zum Backen von Brotfladen  wird viel Maismehl gebraucht. In unserem Land wird Mais mit einer Getreidesorte zu Mehl  verstampft.  Das  ist  eine  Arbeit  für uns Mädchen. Dabei singen wir und schlagen die Hölzer im Takt dazu." 

Nun meldete sich Fina und sagte: "Ich gehöre zu einer Gruppe, die grüne   Bananen  schält.  Daraus  wird  eine  leckere  Nachspeise bereitet.  Auf eines freue ich mich immer besonders: Nach getaner Arbeit wird nämlich geschaukelt. Es ist herrlich, durch die Luft zu fliegen."  "Das stimmt!" rief Johanna dazwischen, "ich stelle mir  dann  immer  vor,  ein  Vogel zu sein, der um die ganze Erde fliegt. Ich schaukele so gerne!"  "Ja," meinte Fina," ich vergesse dabei  sogar, dass ich blind bin. Wenn es auch um mich herum dunkel aussieht, so wird es doch in meinem Herzen ganz hell!" 

Die  Kinder  der Klasse 3b hörten aufmerksam zu. Das klang wie aus einer anderen  Welt, aus einer strahlenden, hell erleuchteten Welt, in der blinde Kinder lebten. Sie machten überhaupt keinen unglücklichen  Eindruck.  Und  jetzt, da sich ihre Augen für eine Stunde  öffneten,  konnten  sie  es  kaum  fassen,  wie reichlich beschenkt sie waren und wie froh es sie stimmte, in diesem hellen Kreis  von  Kindern zu sitzen. Deshalb wohl sprudelten ihre Worte nur so aus ihnen heraus und die 3 b kam eigentlich kaum zu Wort. 

Lehrer  Butu  hatte  schon  längst etwas sagen wollen und ergriff jetzt  das  Wort:  "Wie ihr Kinder aus Deutschland schon gehört habt, lesen wir in der Blindenschrift, die aus verschiedenen Gruppen von Punkten besteht. Wir können somit all die interessanten  Bücher  lesen, die andere auch kennen. Die Mädchen der  6. Klasse lernen sogar Maschinenschreiben. Sie können Briefe schreiben,  die jeder sehende Mensch lesen kann. Das Hauptfach an unserer  Schule ist übrigens Sport. Dazu machen wir viel Musik. Das  ist  ein  Riesenspaß." "Die Turnstunde mit Frau Machhimbo mögen wir deshalb so sehr, weil sie immer wieder neue Spiele mit uns  macht!" rief  Murbasa und wippte dabei auf ihrem Po hin und her.   Orto meinte: "Nach einer solchen Turnstunde sind wir dann auch besonders hungrig. Wir helfen oft in der Küche und putzen Gemüse."    "Küchenarbeit ist für uns alle besonders wichtig. Wir lernen,    wie  man  mit heißen Töpfen  umgeht,  ohne  sich  zu verbrennen,"  warf  Amamba  ein.   "Das möchte ich auch lernen!" meldete  sich  Daniela,  "ich habe mir gestern beim Einlassen des Badewassers  eine  Hand  verbrüht.  Einen  heißen Topf zu tragen, würde  ich  mir  erst gar nicht zutrauen."

Oliver sagte: "Auch wir verteilen in unserer Schule Aufgaben. So gibt es zum Beispiel einen  Milchdienst.  Jene Kinder tragen den Bestellzettel und das eingesammelte  Geld  zum  Hausmeister  und  pieksen  jeden Morgen Strohhalme  durch  die  Flaschendeckel."    "Andere Kinder müssen Bücher, Hefte und Arbeitsblätter austeilen  oder Briefchen zu anderen  Klassen  tragen“,  äußerte sich Dominik. "Wir nennen das den  Verteilerdienst." Heiko  rief: "Beim Sport werden ein paar Kinder  als  Helfer  eingeteilt.  Das  ist ein besonders schwerer Dienst.  Tragt  ihr  mal  einen  Kasten, der so viel wie ein Sack Kartoffeln wiegt. Rollt ihr doch mal den Wagen mit den Turnmatten durch  die  Halle,  der  so  schwer  ist  wie  ein voll beladener Güterwagen!"    "Außerdem  ist dieser Dienst gefährlich!" meldete sich  Dennis  dazwischen,  "mir ist mal eine Holzbank auf den Fuß gefallen,    der  daraufhin  anschwoll  wie  ein  Heißluftballon. Vergangene  Woche  wurde ich fast von einer umstürzenden riesigen Weichmatte  begraben,  wenn  mein Namensvetter diese nicht wieder rechtzeitig  an die  Wand gedrückt hätte!"  "Ihr übertreibt wohl ein bisschen“, meinte Kathi, "nun haltet mal die Luft an!" Die Kinder erzählten  noch  lange.  Hoch von oben sah der Kinderkreis aus  wie  ein  bunter  Kringel mit hellen und dunklen Tupfen.  So  sah  ihn  sicher auch ein Mäusebussard, der seit ein paar Minuten unter einer hellen Wolke seine Kreise zog. Allmählich wurden  die Wolken grau und zahlreicher. Der Raubvogel verschwand plötzlich  aus  seiner  Schleife und stand danach im Rüttelschlag über  einer  entfernten  Baumwipfelgruppe.  Wenn  die  Sonne noch einmal  durch die Wolkenlücke stieß, wozu sie sich immer seltener entschließen  konnte,  zog  ein  Teil des Himmels einen schwarzen Vorhang  aus  Wolkenmasse  zu.   

 

"Wenn es nun gleich Regen gibt, endet  unser Ausflug!" rief Tim besorgt.  "Wir verabschieden uns lieber, sonst müssen wir uns gleich noch fluchtartig davon machen! " stimmte Marco ein.  "Doch nicht so schnell!" beruhigte Butu die Kinder.  "Wir  haben  noch  genug  Zeit.  Wir in Afrika sind gute Wetterbeobachter. Ich sage euch, es wird in den nächsten zwei bis drei  Stunden  noch  nicht  regnen." Da schaute Sara nochmals zum Himmel  auf und sprach: "Hoffentlich hat er recht. Ich glaube das nicht!" "Habt  ihr  mal darüber nachgedacht, dass der Spaß für die Kinder aus  Tansania  gleich  zu Ende geht?" bemerkte Vanessa und konnte ihre  Erregung  nicht  verbergen. "Wenn sie sich von uns getrennt haben, verlieren sie doch ihr Augenlicht wieder, spätestens, wenn sie  den  Zauberwald  verlassen.  Sollen  wir  sie nicht bis nach Afrika begleiten?"

"Und  dann  müssen  wir ja immer bei ihnen bleiben, wenn sie nicht wieder erblinden sollen",  sagte jemand, "ich glaube, meine Eltern hätten sicher etwas dagegen!"  Die heitere Stimmung  machte einer allgemeinen Nachdenklichkeit Platz,  die fast an  Trauer  grenzte.  Die Kinder der 3b hatten früher eigentlich nie recht darüber nachgedacht, wie toll es ist, gesunde Augen zu haben, die  tagaus, tagein sehen können. Und diese armen Kinder aus  Irente? Sie hatten so fröhliche, endlich  einmal  taghelle  Minuten mit ihnen verbracht. Was stand denen wieder bevor?    

"Man muss ihnen doch helfen können!" meinte Simon. "Wir sind hier schließlich im Zauberwald. Ob man den afrikanischen Kindern nicht ihr Augenlicht für immer herbeizaubern kann, irgendwie?" "Irgendwie, irgendwie!" rief Tanja, "wie denn?" Herr Hoffmann meinte: "Wir gehen jetzt erst einmal alle los in Richtung Haupteingang. Die besten Einfälle kommen manchmal beim Wandern. Kümmert euch bitte weiterhin so nett um die Kinder aus Afrika. Jede Sekunde ihres Augenlichtes ist für sie kostbar." Ziemlich  ratlos erhoben sich alle. Auch Herr Butu sah nicht mehr so  froh  aus  wie vorhin. Kein Wunder! Stell dir nur mal vor, du wüsstest,  wenn  es  gleich  zu  regnen  beginnt,  würdest du mit Sicherheit erblinden! Furchtbar, nicht?  Je  weiter  die  Kinder  wanderten,  desto  mehr näherte sich die Stimmung  dem Nullpunkt. Solch ein schöner Ausflug! Sollte er mit einem  derartigen  Stimmungstief  enden? 

"Scheiße!"  schrie  auf einmal Stefan  auf, "wieso heißt das „Zauberwald“, wenn sich hier nicht  zaubern  lässt? Wenn  man  den  Zauberwald wirklich einmal braucht, dann tut er nichts!  In  diesem Augenblick gab es einen furchtbaren Knall. Das kannten die  Kinder doch schon. Nach einem solchen Knall hatte sich Tanja wie  über  einen  großen  Lautsprecher gemeldet und gesagt, wo es langgeht.  Aber  diesmal ertönte Tanjas Stimme nicht. In Richtung des  Donnerschlages bemerkten die Kinder eine Rauchsäule. Aus der trat ein  Männlein  hervor  mit  grüner  Kapuze,  vorstehendem Unterkiefer, einem Spitzbart mit einem faltigen Gesicht und einem ebensolchen Rock aus grünem Samt. Die Kinder hielten augenblicklich  an und starrten wie gelähmt auf jene Erscheinung. "Wer bist du denn?" fragte Computer- Dennis.  "Ich bin Kraftprotz, der  gute Geist des Zauberwaldes. Immer wenn im Zauberwald jemand laut  "Scheiße"  ruft,  bin ich gleich zur Stelle. Früher war ich fast arbeitslos, aber zurzeit habe ich sehr viel zu tun. Wer von euch hat hier dieses Wort  ausgerufen?"  Alle blickten Stefan an und so musste er sich melden. "So, du also. Du warst das! Wie heißt du?" "Stefan".   "Stefan, so so! Hoffentlich nicht "armer“ Stefan! Denn wenn  du  mir  nicht  plausibel begründen kannst, warum du dieses schlimme  Wort  gebraucht hast, nehme ich dich für immer in meine Zauberhöhle  mit.  Also,  warum  hast  du  dieses Wort in den Wald hinein  geschrieen?" Zunächst  eingeschüchtert, dann aber die Fassung zurück gewinnend, antwortete  Stefan:  "Sie  sehen  doch die dunkelhäutigen Kinder unter uns. Sie sind blind, nein, sie waren blind, zurzeit können sie wieder  sehen.  Wir,  die  Klasse  3  b,  haben  es geschafft, ihr Augenlicht  zurückzuzaubern.  Wir  brauchten nur nett zu ihnen zu sein.  Sie  sind  unsere Freunde. So konnten sie wieder sehen wie wir. Aber wir müssen uns gleich trennen, sobald es regnet, müssen wir nach Hause zurück. Unsere Eltern warten dann auf uns. Dann ist der Spuk vorbei und  unsere Freunde und Freundinnen  verlieren  ihr  Augenlicht  wieder. Das wollen wir aber nicht.  Wir  sind  doch hier im Zauberwald. Da muss sich doch etwas machen  lassen.  Kann  man  nicht ihr Augenlicht für immer wieder herbei zaubern?"  "Und warum hast du "Scheiße" in den Wald geschrieen?" wollte der  Kobold  wissen. "Weil so ein Zauberwald Mist ist, wenn er es  nicht  fertig bringt,   armen  Kindern zu helfen," gab Stefan zurück. "Zaubern hin, zaubern her, das ist nicht so einfach“, gab Kraftprotz  zu  bedenken.  "Tut  mir leid, aber ihr verlangt sehr viel.  Die Kraft des Waldes ist begrenzt. Viele Bäume sind krank, und  ohne  Bäume  ist  der  Wald  wie ein Schokoladenpudding ohne Schokolade.  Ich schaue mal in meinem Zauberbuch nach. Vielleicht steht  dort  etwas  darüber, wie man so schwierige Probleme lösen kann. Dein  Kraftausdruck,  lieber  Stefan, war berechtigt, also nehme ich dich nicht mit in meine Höhle. Da weilen ja nur Kinder, die  jenes  Wort  gedankenlos herausgeschrieen haben, ohne triftigen Grund." "Da hast du aber Glück gehabt, Stefan“, sagte Elena   erleichtert, und ihr Satz klang wie unter einer großen Anspannung ausgehaucht.   "Scheiße!" schrie plötzlich der Tintenkiller- Dennis. "Warum  machst du  das?" fragte Kraftprotz sogleich. "Och, nur  so,  weil's  mir Spaß macht, ich finde das ganze megacool“,  antwortete Dennis amüsiert. "Damit bist du in meine Höhle verbannt!" schrie der Kobold  böse,  "du  hast  mich  eben  wohl  nicht  richtig verstanden!" Die  Kinder  sahen  sich um. Dennis war tatsächlich verschwunden.  Einfach weg! Ja, man sollte mit dem Wort "Scheiße" eben sehr bedacht umgehen. 

Meister  Kraftprotz blätterte noch immer in seinem Büchlein. Dann hielten  seine  Augen  beim Betrachten einer bestimmten Seite inne. "Ich habe etwas  gefunden“, sagte er. "Das könnte euch weiterhelfen. Es ist aber  nicht leicht. Vielleicht ist es sogar hoffnungslos. Aber es ist  die einzige Chance, die ihr in diesem Zauberwald bekommt, um euren Freunden zu helfen. Ich sage euch, was ihr zu tun habt:

Erstens:  Jeder  von  euch   Kindern aus Oedt und Mülhausen muss seinen Traum der vergangenen   Nacht  erzählen  können.  Aber  nicht  mogeln!  Der Traumgeist  dieses  Waldes  wacht  über  euch und kennt alle eure Träume sowieso. Ihr könnt ihm nichts vormachen. Bleibt ehrlich! Etwas hinzudichten  dürft  ihr,  das  ist  aber auch alles. Die Einzelheiten des Traumes müssen stimmen. Also nicht herumphantasieren! Zweitens: Jeder von euch bekommt einen grünen Zettel. Darauf muss er  angeben, worauf  er  bereit  ist  zu  verzichten,  was er also abgeben, verschenken oder spenden will. Es muss aber ein echter Verzicht sein, sonst verfärbt sich der Zettel schon beim Schreiben ins Rote.  Das kann jeder sehen und das gilt dann nicht mehr. Ein einziger roter Zettel  lässt  alles  scheitern.  Gebt die Zettel am Haupttor des Zauberwaldes   ab,  wenn  ihr  nach  Hause  geht.  Das  sind  die Bedingungen,  die  ihr  erfüllen  müsst,  um  euren  Freunden  zu lebenslangem  Augenlicht zu verhelfen. Guten Tag!"  So sprach der Waldgeist  und  verschwand  mit einem erneuten Knall hinter einer Rauchsäule. Die  Begegnung  mit  Meister  Kraftprotz hatte alle Kinder wie zu Salzsäulen   erstarren  lassen.  Erst,  nachdem  sich  der  Rauch verzogen  hatte,  aber  noch wie eine Regenwolke am Himmel stand, kehrte  das  Leben  langsam  in  die wie gelähmten Körper zurück. Von Erleichterung  war  jedoch  nichts zu spüren. Wer von den Kindern konnte  seinen  letzten  Traum nur annähernd richtig wiedergeben? Damit war ja schon alles zum Scheitern verurteilt. Wozu sich dann noch  die  Mühe  machen, Verzichtserklärungen auf grüne Zettel zu schreiben.   So steckte  Hoffi  den  grünen  Notizblock, den er vom Kraftprotz erhalten hatte, enttäuscht in seine Tasche.  Nur  Dominiks Augen blitzten auf. Ihr wisst warum! Er kannte doch insgeheim  alle  Träume  seiner  Mitschülerinnen  und Mitschüler, die diese in der vergangenen Nacht hatten. Jetzt  durfte  er  sie  einfach  nicht mehr für sich behalten. Er allein  hatte  es  jetzt  in  der Hand, die blinden Kinder wieder für  immer sehend zu machen. So wurde aus ihm ein merkwürdiger Klassensprecher. Seine Klassenkameraden würden schon mitspielen. Hoffentlich hatte er auch alles genau genug behalten! So erzählte er  beim Weitergehen den Kindern, jedem für sich, schön hintereinander und der Reihe nach, seinen  Traum  aus der vergangenen  Nacht.  Die  waren nicht schlecht erstaunt, dass ihr Mitschüler vorgab, ihre Träume zu kennen. Zum Glück hatten sie ja nichts  Schlimmes  oder  Intimes  geträumt,  sondern  meist etwas Lustiges.  Ihre bruchstückhaften Erinnerungen ließen sich nun zu einem sinnvollen Ganzen zusammen fügen. Somit waren sie Dominik auch nicht böse. Außerdem ging es ja für alle um eine wichtige Sache. Nach  einer  halben  Stunde erreichten die Kinder eine Wiese, die mitten  im Wald lag und von hohen Bäumen, alten Buchen, umgeben war. An einer Seite lag ein alter Baumstamm, der Rest einer vor langer Zeit  gefällten  Buche,  deren Aststümpfe schon verfault oder mit Moos bewachsen waren. Alle setzten sich in einer langen Reihe auf den  Stamm. Butu  stellte sich  wenig begeistert vor  die Kindergruppe und sagte: "Ihr habt die Worte  des  Waldgeistes  vernommen. Also, Kinder der 3 b,   erzählt nun von euren  Träumen  aus  der vergangenen Nacht. Wenn ihr das nicht schafft,  braucht  ihr  erst  gar nicht eure grünen Zettel von Meister  Kraftprotz  auszufüllen,  die  er eurem Klassenlehrer gegeben hat." Und dabei schwenkte dieser seine  erhobene rechte Hand  etwas hilflos mit  einem  Stapel  grüner Papierbögen, zwischen Daumen und Zeigefinger  eingeklemmt,  hin  und  her. Nacheinander traten die Kinder der 3b vor die Reihe der Zuhörer und gaben ihre Träume zum Besten. Die Stimmung stieg wieder. Es wurde sogar gelacht. Für die   Kinder aus Irente  waren die  Träume  der  weißen Kinder aus Deutschland natürlich besonders interessant.  Julia  erzählte  zum  Beispiel:  "Ich  träumte,  mein  Hund würde während  des Ausflugs meinen schweren Rucksack tragen!" Stephanie sprach: "Mir träumte, ich ritt auf meinem Füllfederhalter wie auf einer  Riesenzigarre  durch das Vogelparadies."  Sara berichtete, sie  sei  auf  ihrem  aufgeklappten  Schreibheft  wie  auf  einem Segelflugzeug  durch die Lüfte geschwebt. Vanessa hatte geträumt, sie  wäre  von  einem Dinosaurier ausgespuckt worden und in hohem Bogen  in  einem  Brennnesselfeld  gelandet. Die andere Julia tat kund,  sie  hätte  35  Kaninchen  unter beiden Armen getragen und hätte  kaum  noch  ein  Bein  vor das andere setzen können. Tanja berichtete, sie hätte von einer Stereoanlage geträumt und so laut ins Mikrofon geschrieen, dass der Lautsprecher explodiert sei. Und so  weiter  und  so  weiter.  Ihr kennt doch alle die Träume. Ihr wisst,  sie stehen gleich vorne in dieser Geschichte. Alle Kinder gaben ihre Träume recht genau wieder. Es fehlten, wie verlangt, keine Einzelheiten. Damit hatten sie ja schon die  Hälfte  der  Bedingungen  zur  Rettung der Kinder aus Irente erfüllt!  Nun  musste  noch  jeder  der Klasse 3b einen  grünen Zettel ausfüllen, auf dem aufzuschreiben  war,  worauf jeder bereit war zu verzichten. Aber, wie schon gesagt, es  sollte  ein  echter  Verzicht  sein, ein kleines Opfer. Sonst würde  sich  der Zettel bereits beim Schreiben rot verfärben. Ein einziges  rotes  Stück Papier würde das gesamte Vorhaben zunichte machen.  Nur  grüne Zettel durften abgegeben werden. Sonst würden die  Kinder  aus  Tansania  bald wieder „schwarz“  sehen Butu teilte den Kindern je ein grünes Stück Umweltpapier mit einem Bleistift aus. Dann  hockten  sich  alle  Schreiber irgendwo hin, wo es nur eine nützliche  Schreibunterlage  gab,  wie  Baumstümpfe, große flache Steine  oder  einfach  der  festgetretene  Waldboden.  Es dauerte bisweilen  recht  lange,  bis  einige  etwas aufs Papier gebracht hatten.  Man  konnte  auch  sehen,  wie  sich ein paar Zettel rot verfärbten.  Da wollte zum Beispiel jemand auf seine Hausaufgaben verzichten. Damit kann   man  keine  Blinden  retten. Also ausradieren! Und  schon  erhielt  das  Papier wieder seine grüne Farbe  zurück. Ein neuer Versuch. "Ich verzichte auf zwei Stunden Glotze  pro Tag", stand nun darauf und der Zettel blieb grün. Auf was nicht alles  verzichtet  wurde!  Auf  Computerspiele,  auf Stofftiere,  auf  Torte,  auf ein neues Fahrrad, auf Reitstunden, auf  teure  Marken-Jeans,  ja sogar auf den Sommerurlaub am Meer. Auch  Herr  Hoffmann musste einen Zettel beschriften. Er schrieb: "Morgen  wollte  ich mir ein neues Auto kaufen, nun verzichte ich darauf. Das alte läuft ja noch“.   Ja,  alle Zettel blieben grün. Die Kinder der 3 b hatten  verstanden:  Ein echter Verzicht muss wohl doch ein wenig wehtun. Wer  nichts vom Reiten hält, kann leicht auf Reitstunden verzichten. Wem Musikmachen nichts bedeutet, verzichtet gerne auf Klavierunterricht oder  Geigenstunden. Da!  Ein  Zettel verfärbte  sich  schlagartig  rot!  Da  stand  doch  drauf:  "Ich verzichte sofort auf das ewige Gemeckere meiner Schwester." Klar! Dieser  Verzicht  wäre  ja wohl kein Opfer gewesen, im Gegenteil! Wer  findet  ewiges  Gemeckere  seiner  Schwester  schon toll und leidet  darunter,  wenn  er  dem entsagen muss? Selbst bei echten Ziegen  kann  einem  das  Gemeckere  manchmal auf den Geist gehen, sogar einem Tierfreund. Der Text musste also geändert werden. Endlich  war  jeder  fertig  mit  dem Schreiben und Herr Hoffmann sammelte nur grüne Zettel ein. "Ich glaube, ich habe gerade einen Regentropfen  abbekommen“, rief Johanna. Alle schauten zum Himmel empor.  Es  sah  wirklich  ziemlich  dunkel dort droben aus. "Wir müssen  uns  beeilen,  damit  wir  nicht  zu  spät  an der Schule eintreffen!" meinte Kathi, "unsere Eltern warten sonst vergeblich auf  uns."   Lehrer Butu nickte und sah freudvoll auf den Stapel grüner Blätter, den Herr Hoffmann wie ein kleines Buch beim Gehen hin-  und herschwenkte.  "Ihr habt für uns so viel getan!" sprach Butu   voll  innerer  Bewegung.  "Ich  hoffe,  wir  werden  unser Augenlicht    jetzt  nie  mehr  verlieren!"  "Wir  danken  euch!" jubelten  die  Kleinen  aus  Tansania,  "ihr Kinder aus Oedt und Mülhausen  seid  toll!"   Sweta  meinte:  "Gleich,  im Intercity "Zauberwald- Irente"  werden wir uns an die Abteilfenster drängen und  uns  zum ersten Mal in unserem Leben die Landschaft aus einem fahrenden  Zug  ansehen  können!"    "Zug?  Wo  ist denn hier ein Bahnhof?" wollte Oliver wissen. 

 

"Bahnhöfe gibt es überall, wo Menschen ankommen und sich begegnen und  wo  sie  sich auch wieder trennen und verabschieden müssen“, erklärte  Butu.  "Und  ein  Zug  ist  ein  Stück geschenkte Zeit, Lebenszeit,  die  uns  zu unseren Wünschen und Erwartungen trägt, uns  aber  zugleich auch immer wieder von diesen wegführt“," fügte er noch hinzu. 

 

"Versteh ich nicht“, warf Steffi ein. "Schau mal, Mädchen", fuhr Butu fort, "meine Kinder und ich kamen mit dem Zug von  Tansania  bis  hierhin  in  den  Zauberwald,  weil  wir  uns erhofften,  wieder  ein  paar  Stunden  sehen zu können, weil wir erwarteten,  jemanden  zu  finden, der uns mag und weiterhilft. Zum Glück sind wir euch begegnet. Das war die Hinfahrt. Nun aber müssen wir uns  von  euch  trennen.  Wir  sind traurig, weil wir euch wieder verlieren  und  euch  nicht mehr um uns haben können. Was wir uns gewünscht  haben und was wir erwarteten, geben wir nun wieder ab. Das  ist  die  Rückfahrt.  So meinte ich das ungefähr. Obwohl wir durch eure Mithilfe nun wieder zu den Menschen gehören, die sehen können,  so ist die Rückfahrt für uns dennoch nicht so leicht wie ihr  vielleicht  denkt."   

 

"Aber seid doch froh, dass ihr wieder sehen könnt!" meinte Kai fast schon etwas vorwurfsvoll, als wäre Herr  Butu  nicht  dankbar genug.  "Sind wir auch!" Aber ich weiß nicht,  ob  du  das schon verstehst. Auch unsere gesundeten Augen lassen  uns  nicht immer das erkennen, was wirklich am Wichtigsten ist. Das  sieht  man nur mit dem Herzen. Das können Blinde und Sehende gleichermaßen - Blinde manchmal noch besser!“ Jeder ergriff die  Hände seiner neuen Freunde und sprach gute  Wünsche  für die Zukunft aus,    bedankte    sich    nochmals  für  alles  und verabschiedete  sich,  fröhlich - und doch ein bisschen traurig. Der  Bussard  kreiste  wieder unter einer dunklen Wolke, rüttelte und  starrte  dabei  auf  zwei  sich  tief  unter ihm voneinander entfernende  Menschentrauben.  Damit wusste er nichts anzufangen, denn  er  hatte mal wieder nur Mäuse im Kopf. Also verschwand er, vom Winde angestoßen, bald im Nichts.

Die  Klasse 3 b zog sich nun beim Gehen immer weiter auseinander. Einige  Kinder  waren  inzwischen  etwas  müde  geworden. "Kommt, Kinder!"  rief  der Klassenlehrer, "nicht trödeln, ich habe schon drei dicke Regentropfen abbekommen, wir müssen in Richtung Heimat zurück!"  "Ich  habe  übrigens  auf meinen neuen Rucksack mit dem großen  Foto  eines Fußballes verzichtet“, bemerkte Oliver.  "Ich wollte erst auf Fußball verzichten“, meinte Ricky, "aber das wäre für  mich zu schwer gewesen. Und so habe ich aufgeschrieben, dass ich  in  meinem Stadion auf eine normale Ecktribüne verzichte und diese für behinderte Menschen umbauen lasse."  "Und ich verzichte auf Kaugummi mit Himbeergeschmack!" rief Bahar. 

Die  Anzahl  der  Regentropfen wuchs ständig. Die Kinder beeilten sich,  schneller  voranzukommen. Was war das? Je mehr es regnete, desto  größer  wurden  die Schritte. Das Wandertempo nahm ständig zu. Die Sträucher, Baumstämme und Äste zu beiden Seiten des Weges huschten  immer  schneller  an den Kindern vorbei. "Mensch, haben wir  ein  Tempo drauf!" jubelte Vanessa. "Wie schnell denn noch!" schimpfte    Julia.  Die  Geschwindigkeit  nahm  weiter  zu.  Sie erreichte  bald  das  Tempo  eines Zuges. Ja, alle hatten auf einmal  den Eindruck, in einen Zug verwandelt worden zu sein. Der Lehrer  war  die  Lokomotive  und jedes Kind stellte einen Waggon dar.  Es  sauste  und  brauste,  ratterte und pfiff. Es rauschte, hämmerte,   quietschte,  donnerte  und  summte.  Es  knarrte  und stöhnte, zischte und knisterte. In den Kurven der Waldwege kam ein Gefühl  auf,  als müsse die fliegende Kette aus Kindern zerreißen und  zerspringen,  auseinander purzeln  und  sich  kreuz  und quer überschlagen. Dabei regnete es immer heftiger. Dicke Regentropfen zersprangen  wie  gezuckerte  Glaskügelchen  auf den Blättern der Bäume. Ein greller Blitz fuhr ins Unterholz und mit ohrenbetäubendem    Knall    zog    jemand   die  Notbremse.  Ein fürchterliches  Kreischen  und  Rumpeln  war  zu  vernehmen,  ein letzter  gewaltiger Ruck nach vorn, ein allerletzter nach hinten. Dann  stand  der  Zug. 

Die  Kinder  schauten  einander  mit weit geöffneten  Augen an. Was war das denn? Keine Bahn weit und breit. Nur hintereinander aufgereihte Kinder, völlig  außer Atem.  Der verschwundene  Dennis  war  auch plötzlich wieder unter ihnen. Er hatte  einen  grünen  Zettel  in  der  Hand und sagte, er sei dem Waldgeist  entwischt  und  auf  den fahrenden Zug gesprungen. Das Wort „Scheiße“ würde er nie wieder aussprechen! Stefan meinte: „Das kommt ganz drauf an!“

Die Kinder  stellten fest, dass sie vor einem gewaltigen Torbogen aus dichtem  Laub  standen. Hindurch lugten dünnstämmige Bäume und zarte  Sträucher. Na klar,  das war der Eingang zum Zauberwald. Durch  ihn  waren  sie vor vielen Stunden in den Wald marschiert. Kein  Tor, keine Tür, nur ein großer Bogen aus Holz und Blättern. Dahinter  ein  dichter  Wald mit großen alten Bäumen, durch deren Laubwerk  kaum  noch  Licht hindurch drang. Er hielt den Regen ab, der  in den Baumkronen mächtig rauschte. Dort befand sich ja auch das  kleine  Häuschen  an der Seite, aus Holzbalken und Teerpappe mit  einem  kleinen  Fenster zur Vorderseite hin. Das Schild, das Simon  entdeckt  hatte,  war immer noch da. "Eintrittsgelder erst nach  dem  Besuch des Zauberwaldes entrichten", stand darauf. Hoffmann  griff  nach seiner Geldbörse. In diesem Augenblick trat jemand aus dem Häuschen heraus, ein Mann mit einer dicken Zigarre im  Mund, fettigen Haaren und einer viel zu langen Nase. "Im Wald wird  nicht  geraucht!"  rief  Heiko.  Da  nahm  der Mann mit der langen Nase und den ebenfalls viel zu langen Hosenbeinen, die den Blick auf die Schuhe kaum freigaben, seine Zigarre aus dem Mund, klemmte sie zwischen Zeige- und Mittelfinger der linken Hand und  steckte  sie danach in seine rechte Brusttasche. "Was müssen wir  bezahlen?"  fragte der Klassenlehrer und  hielt  ihm einen 50 DM-Schein  entgegen.  "Wir nehmen diesmal kein Geld“, erwiderte der Mann lässig und stopfte beide Hände in die Hosentaschen. "Wir nehmen heute nur  rote  oder  grüne  Zettel vom Kraftprotz, dem Waldgeist. Wer keinen  hat,  muss  sich noch einen besorgen, sonst nimmt ihn der Waldprotz mit in seine Höhle. Dort muss der Betreffende den Zettel abarbeiten. Das kann Jahre dauern. Arme vermisste Kinder!" "Was heißt hier "vermisste  Kinder",  rief  der  Klassenlehrer und winkte mit dem Päckchen seiner Zettel. "Her damit“, murmelte der Lässige mit der Nase  und  der qualmenden Zigarre in seiner rechten Brusttasche. Herr  Hoffmann  übergab  den Block. "Sind ja alles grüne Zettel!" bemerkten die langen Hosenbeine so  nebenbei.  "Grün ist auch besser als rot. Die roten bringen wenig Glück, habe ich gehört. Ob'  s stimmt, weiß ich nicht. Nicht zu rauchen soll auch besser sein als  doch zu rauchen," und dabei schlug er mehrmals mit seiner linken Faust  auf  seine rechte Brusttasche, in der sich ein Schwelbrand auszubreiten  begann. "Besser, deine Jacke brennt als der Wald“, bemerkte Dennis,  "hast ja  selber schuld." "Das kitzelt sicher schön auf der Brust!"  rief  Stefan  dazwischen. "Halt du dich daraus!"  sagte die lange Nase giftig. "Kommt, Kinder! Jetzt wird es aber Zeit. Es regnet schon stark in die Baumkronen hinein. Noch  halten  sie  den  Regen  ab, aber eure Eltern warten sicher schon am Schuleingang. Wir dürfen jetzt nicht mehr trödeln, sonst machen sie sich Sorgen um euch“,  sagte der Klassenlehrer. "Auf  Wiedersehen,  Herr  ...?".  "Zettelmeier!"   "Tschüss, Herr Zettelmeier!"  riefen  die  Kinder und guckten sich noch mehrmals um, weil sie den aktuellsten Stand von Zettelmeiers  Brusttaschenfeuer noch mitkriegen wollten.

Inzwischen  hatte  die Nacht ihr schwarzes Tuch über Felder und Wälder  ausgebreitet.  Vor  der  Schule  standen  die  Eltern und warteten  auf ihre  Kinder. Es  klopfte  und prasselte auf ihre Regenschirme.  Die  Kinder mussten eigentlich schon längst zurück sein.  Schon  vor  einer Stunde waren die ersten Regentropfen vom Himmel gefallen. Einige Mütter und Väter hatten sich sogleich auf den  Weg  zur Schule gemacht und auch der Bus war gestartet. Doch dann plötzlich waren in der Ferne Kinderstimmen zu hören. "Unsere Kinder  sind da!" verbreitete es sich wie ein Lauffeuer.

Da waren sie!  Alle wohlbehalten und  glücklich.  "Ihr  ward  aber lange unterwegs“,  sagte  jemand.  "Ihr  seid  jetzt schon seit einigen Wochen  im  4.  Schuljahr!  Herzlichen  Glückwunsch!" Die Kinder hatten  das gar nicht bemerkt, dass die Zeit so schnell verflogen war.  Alle  wunderten sich, nun bereits im 4. Schuljahr zu sein. "Das finde  ich  total  gut!" meinte Franziska, "im 3. Schuljahr gehen wir  los  und  im  4.  Schuljahr  kehren  wir von unserem Ausflug zurück!" Um ihre Kinder hatten sich die Eltern auch in dieser langen  Zeit  keine  Sorgen  zu machen brauchen, denn sie wussten ja, erst müsste es anfangen zu regnen, bis sie zurückkämen. Und Hoffi hielt sein Versprechen, dass wussten sie.   So  war  alles  gut, und die Kinder, die nicht gleich in die Arme ihrer  Eltern fielen, wurden gestreichelt und liebkost. Die lange Zeit  in  den  Familien  ohne  Kinder war nun endlich vorbei, und jeder hatte inzwischen sein Kind noch mehr zu schätzen gelernt als vor dem „totalen“ Ausflug.  Mit  guten  Gefühlen setzten sich alle in Bewegung, eilten zu den Parkplätzen,  zum  Schulbus oder machten sich sonst irgendwie auf den  Heimweg, zu Fuß oder mit den Fahrrädern. Der Regen hatte ganz plötzlich aufgehört. Der Himmel klarte auf und zeigte pechschwarz seine ganze Tiefe. Es funkelte und glitzerte über den Köpfen der Kinder und Erwachsenen. Die Sterne entfalteten ihre ganze Pracht, so dass  fast  jeder  unwillkürlich  seinen  Blick nach oben zum Himmel  erhob.  Ein tiefes Schweigen senkte sich auf die Erde und erstickte dort fast jeden Laut.

 

Da, auf einmal, fielen die Sterne herab,  Tausende und Abertausende schwebten herunter wie silberne oder goldene Münzen,  glitzerten  und  blinkten in der klaren Luft des Abends, bevor sie mit klingendem Aufschlag, mit kullernden und tanzenden Bewegungen  auf  Steinen  und  schwarzem  Asphalt  ausrollten und dort  endlich  zur  Ruhe  kamen.

 

Eltern und Kinder bückten sich danach, suchten  und  sammelten sie auf. Das war ein munteres Treiben auf Wegen, Straßen und in den Vorgärten.  Ein jeder stopfte sich seine Taschen voll, und zu Hause gab es genug zu tun, das viele Geld zu zählen. -

 

Am  nächsten  Tag  schrieben  die  Kinder der Klasse 4 b sogleich einen  Brief  an die Kinder in Tansania. Sie erzählten darin, wie es  ihnen  nach  ihrem  Abschied von ihnen im Zauberwald ergangen war. Vor  allem berichteten sie vom Ereignis mit den Sterntalern mit totaler Begeisterung. 

 

Nach  einem  Monat  kam  eine  Antwort  aus Irente. Die lieben kleinen  Freunde aus Afrika  bedankten  sich  nochmals  recht  herzlich  und erzählten, dass sie nun die Blindenschule verlassen hätten und in ganz normalen Schulen angemeldet worden seien. Sie hätten nun die gleichen  Aussichten,  einen  Beruf  zu erlernen wie alle anderen Menschen  mit  Augenlicht. Sie bedankten sich besonders herzlich für  die riesige Geldspende. So viele Silber- und Goldtaler hätten sie noch nie auf einem Haufen gesehen!  Und dann noch etwas: Ihr Zug sei  während  der  Rückfahrt  so schnell davongebraust, dass alle Angst  um  ihr  Leben  gehabt  hätten. Aber es wäre toll gewesen, dabei  aus den Abteilfenstern zu blicken und die vorbeihuschenden Gegenstände  zu  betrachten.  "Ein  ganz  tolles Erlebnis!" schrieb Bongo. Und noch etwas stand im Brief der Kinder aus Irente:

 

"Wir danken euch zum  Schluss nochmals für das viele Geld. Wir können es sehr gut für unsere armen Familien gebrauchen. Aber, dass die Münzen vom Himmel gefallen  sind,  während  ihr auf dem Rückweg nach Hause ward, das ist ja wohl ein ziemlich merkwürdiger Scherz!"  

Die  Kinder  der  4b,  ziemlich  ratlos, was sie darauf antworten sollten,  sahen ihren Hoffi so an, als erwarteten sie dringend ein weiterhelfendes Wort von ihm. Dann sprach er endlich: "Kinder, man sieht eigentlich nie, was wirklich ist, sondern das, was für einen selbst große Bedeutung hat. Und das sieht man meist nur mit dem Herzen". 

"Derartiges haben Sie uns doch schon mehrmals gesagt“,  meinte  Simon, "ich glaube, als wir uns ihr Gesicht in der Sonnenscheibe eingebildet haben!"  "Und als wir meinten, die Tobi- Familie  im Zauberwald wieder zu finden!" fügte Johanna noch hinzu. „Eingebildet? Wenn ihr meint. Okay.